Laut gegen leise

„Dir bleibt einfach nichts anderes übrig, als auch mal die Ellenbogen auszufahren!“

Der Tag hatte schon mies begonnen. Ein Traum hatte mir eine äußerst unruhige Nacht beschert und mich innerlich ziemlich aufgewühlt. Bilder meines Onkologen, den ich nun seit Jahren nicht mehr gesehen habe, rasten in meinem Traumland an mir vorbei. Eine neue Therapie. Schachteln voller rosafarbener Tabletten. Mittlerweile träume ich selten von den Vergangenheiten meiner Erkrankung. Aber wenn sie kommen – diese Träume – dann rütteln sie mich auf. Bewegen mein Innerstes und hallen lange nach.

Die Kopfschmerzen, die mich beim Aufstehen begleiteten, wabern diffus durch meinen Kopf und hüllen mein Gehirn in einen dichten Nebel. An Tagen wie diesen bin ich leise, möchte eigentlich gar nichts sagen und wandere eher zurückgezogen und ohne Schutzpanzer durch meine Welt, die von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang ihre Lautstärke auf VOLLE POWER gedreht hat.

Auf dem Weg zur S-Bahn, die mich zur Arbeit bringt, hoffe ich an diesem Morgen auf eine anonyme Fahrt mit Sitzplatz an einem sauberen Fenster ohne Sprayfarbe. Doch ich werde schnell enttäuscht. Ein bekannter Vater aus der Schule meines Sohnes erblickt mich bereits am Bahnsteig und winkt lautstark „Guten Morgen“. Seinem Blick auszuweichen, gelingt mir nicht. Seinen Redeschwall zu unterbrechen, ebensowenig. Meine Energie reicht nicht aus, um meine Klappen hochzufahren, oder mich der Situation zu entziehen. Vielleicht merkt mein Gegenüber ja selbst, dass ich nicht antworte? Leider nein! Und so lasse ich an diesem Morgen seinen Monolog über die neusten Aufregerthemen und die chronische Verspätung der S-Bahn über mich ergehen. Ohne Sitzplatz. Und ohne saubere Fensterscheibe.

Im Tagesverlauf versuche ich dann, mein Bestes zu geben. Ich beobachte mich, wie ich beim wöchentlichen Meeting mit meinem Chef meine Rolle einigermaßen gut spiele und ihm das präsentiere, was er wohl erwartet. Zurück in meinem Büro beschließe ich, heute einfach nach Hause zu fahren und mich ins Bett zu legen. Kurz erkläre ich meiner Kollegin die Situation. Wir kommen ins reden. Ruhig. Für einen kurzen Moment privat. Sie hört mir zu. Kostbare Momente in dieser hektischen Zeit, in der eigentlich mein Telefon kaum mehr schweigt. Einen kurzen Moment kann ich innerlich durchatmen, bis mit einem lauten Knall unsere Tür aufspringt und der Kollege aus der IT grußlos zum Rechner meiner Kollegin rennt.

Ich zucke innerlich und äußerlich zusammen.

„Anklopfen wäre auch schön!“, rufe ich erschrocken. Doch das registriert er nur beiläufig mit einem schnoddernden Brummen.

Ich packe meine Sachen und mache mich auf den Heimweg. Atme durch, als ich an der U-Bahnhaltestelle stehe und den Arbeitstag hinter mir lassen kann. Heute soll mich bloß niemand mehr ansprechen. Sonst kommen mir die Tränen. Ich wühle in meiner Tasche nach meinem Handy, um meinem Mann zu sagen, dass ich früher nach Hause komme, als wie aus dem Nichts ein Kollege neben mir steht. Was macht der denn schon so früh hier?

„Na, wie geht’s?“, beginnt er seinen Satz und ich stecke mein Handy wieder ein und versuche, gequält zu lächeln. Meine Kofschmerzen sind mittlerweile so stark, dass ich kaum mehr aus den Augen schauen kann.

„Naja, geht so“, antworte ich leise. „Hab ziemliche Kopfschmerzen.“

Das scheint den Kollegen nicht zu interessieren. Und überhaupt. Habe ich nicht eigentlich Feierabend?

„Was ich dir übrigens noch sagen wollte“, schiebt er unbeeindruckt hinterher. „Du hast da ja letztens was rumgeschickt. Dazu habe ich drei Kritikpunkte…“

In mir regt sich Wut. Widerstand gegen so viel Stumpfheit. Warum hat er mir das nicht bereits in den letzten Tagen mal gesagt? Während der Arbeit? In einem offiziellen Arbeitsrahmen. Dann wäre ich zumindest vorbereitet gewesen gegen diese… Pöbelei. Heute fehlt mir die Energie für einen lauten Widerstand. Für einen Kampf gegen…!

Stattdessen entschließe ich mich, den Menschen anzusehen, der vor mir steht. Zu nicken. „Aha. Mmh. Verstehe“, zu sagen und darauf zu warten, dass der Kollege selbst darauf kommt, wie unpassend es ist, mir an diesem Bahnhof unter Hannovers Straßen seine Kritik zu präsentieren. Ich höre zu, ohne wirklich zuzuhören und warte, was passiert.

Die U-Bahn verspätet sich mal wieder. Verdammt! Dann werde ich auch meine Anschlussbahn nach Hause verpassen.

Und dann – aus heiterem Himmel – passiert es.

„Naja, Kritik war jetzt nicht das richtige Wort. Entschuldige. Ich wollte dir das als Anregung mitgeben“, beendet der Kollege seine Kurzrede.

„Danke“, sage ich. Lächele und winke, als er sich mit Gewalt in die vollkomme überfüllte U-Bahn quetscht und sein Rucksack mehrere Male in der Tür eingeklemmt wird. Ein kleiner Lichtblick bleibt beim Blick in den schwarzen U-Bahn-Tunnel, in den die U9 soeben entschwunden ist. Denn auch ohne Protest von meiner Seite hat mein Gegenüber die etwas verfehlte Wirkung seiner Worte erkannt. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Ich beschließe, auf die nächste Bahn zu warten. Mit weniger Menschen und Luft zum Atmen. Und innerlich werde ich wieder leise.

„Du musst lernen, bei sowas mal Grenzen zu setzen. Sonst wird das immer schlimmer“, sagt mein Mann, als ich ihm am Abend von meinem lauten Tag berichte.

„Da bleibt dir nichts anderes übrig, als auch mal deine Ellegenbogen auszufahren“, sagt meine Mutter.

Ich überlege kurz und seufze innerlich.

Habe ich es wieder einmal nicht geschafft, meine Grenzen zu setzen?

Das war noch nie meine Stärke. Wahrscheinlich haben sie recht. Mit Grenzen setzen und Ellenbogen und so weiter. Aber ich kann mir nicht helfen. Irgendetwas stimmt an dieser Gleichung nicht für mich. Denn auf einmal schreit es in mir: NEIN!

Nein, ich denke nicht, dass die Welt noch mehr laute Menschen braucht.

Nein, ich glaube nicht, dass es einen Unterschied macht, wenn ich meinen lauten Kollegen mal ne richtige Ansage mache. Denn es würde ihr Verhalten in einer nächsten Situation kein bisschen verändern.

Nein, ich denke nicht daran, wieder lauter zu werden, denn wenn ich mir die Welt da draußen grad so anschaue, hat sie genug laute und aggressive Menschen.

Die Lautstärke dieser Welt mit noch stärkerer Lautstärke zu bekämpfen, hat noch nie zu Ruhe und Frieden geführt. Ist es hingegen nicht viel wichtiger, dass wir lernen, einander wieder zuzuhören? Nicht nur pausenlos zu senden, sondern auch mal wieder zu empfangen?

Nein, ich bin fest davon überzeugt, dass es auch die leisen Menschen auf dieser Welt braucht. Denn das ist, was meine eigentliche Natur ausmacht. Leise der Welt zu lauschen, mein Gegenüber in seiner eigenen Natur mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen wahrzunehmen und ihm vielleicht an der einen oder anderen Stelle mit Empathie einen Blick in den eigenen Spiegel werfen zu lassen. Das ist übrigens der Weg, den mich im letzten Jahr die Gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg gelehrt hat. Und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass dies der richtige Weg für mich ist.

Daher habe ich mich dazu entschlossen, weiterhin auf die leisen Töne zu setzen und nicht die laute Kollegin, Vorgesetzte oder Gesprächspartnerin zu sein, die anderen die Meinung geigt, um ihre eigenen Grenzen zu wahren. Ich bleib leise, auch wenn ich an manchen Tagen das Gefühl habe, auf dieser Welt damit unterzugehen.

Wie siehst du das? Brauch wir mehr laut oder leise?

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