Tag der jährlichen Mammografie. Für mich liegt in diesen Terminen bei meinen Ärzten immer ein sicheres Gefühl. Hatten sie doch einen entscheidenden Anteil daran, dass nach Abschluss der Behandlung keine malignen Zellen mehr in meinem Körper zu finden waren. In dem Moment, in dem mein Immunsystem die Kontrolle über meine Gesundheit verloren hatte, war ich gezwungen, eben diese ein Stück weit in fremde Hände zu geben und darauf zu vertrauen, dass die „Götter in weiss“, bzw. die Menschen, die sich dahinter verbergen, genau wissen, was zu tun ist. Und ich muss sagen – mein Vertrauen wurde nicht enttäuscht.
Und nun sitze ich hier im Wartezimmer des Brustzentrums; warte auf meine Bestätigung, dass sich nach einem Jahr wiedererlangter Gesundheit an diesem Zustand nichts geändert hat. Manch einer möchte nach Abschluss der Therapie vielleicht nichts mehr von Röntgengeräten und Bluttests wissen. Was mich betrifft, so kann ich mir gar nicht oft genug die Bestätigung von offizieller Seite holen, dass der Krebs nicht wiedergekommen ist. Kreisen meine Gedanken zwischen den Kontrollen doch noch zu oft um den Gedanken, dass jedes Zwicken, Stechen und Ziehen in meinem Körper irgendetwas Schlechtes zu bedeuten hat. Und so lasse ich nur zu gerne das schmerzhafte Gequetsche meiner empfindlichsten Weichteile über mich ergehen.
Das Warten auf das positive Resultat ist hingegen viel schwerer zu ertragen. Ich sitze erneut im Wartezimmer und auf einmal wird mir klar, warum ich in der letzten Nacht so gar nicht schlafen konnte. Denn auch wenn ich stets versuche, meine Kontrolltermine so normal und selbstverständlich wie möglich in meinen neuen Alltag zu integrieren, so klebt mir doch auch gleichzeitig eine gewisse Portion – naja, sagen wir Nervosität – im Nacken. Ein beklemmendes Gefühl, dass ich stets versuche, nicht übermächtig werden zu lassen. Auch wenn es mir heute irgendwie besonders schwer fällt. Aber das gehört wohl dazu, schätze ich.
Meine Ärztin begrüsst mich freundlich. Gibt sich betont lässig, als sie mir unterbreitet, dass wir eine Aufnahme nochmals in einem anderen Gerät wiederholen müssen. Reine Routine.
„Da ist eine Gewebeüberlappung, die immer mal vorkommen kann bei einer Mammografie, die wir uns aber sicherheitshalber in einer zweiten Aufnahme anschauen.“ Mir stockt der Atem.
In der Umkleidekabine bleibe ich für einen kurzen Moment regungslos stehen und frage mich, wie ich mit einer erneuten Diagnose umgehen würde. Angst verspüre ich eigentlich keine. Es ist eher das Gefühl einer tiefen Erschöpfung, das sich in mir breit macht. Mein innerer Kampf gegen den Krebs hat mich sehr viel Kraft gekostet, die nach so kurzer Zeit noch nicht zurückgekehrt ist. Ich merke, wie ich mich innerlich schon wieder auf das Schlimmste gefasst mache. Warum eigentlich?
Dann folgt die Detailaufnahme in Scheibchen. Meine Ärztin führt mich anschliessend in den Raum mit den grossen Monitoren, in dem sie mit mir die Aufnahmen besprechen möchte. Doch die Bilder sind noch nicht geladen, die Datenmenge, die mir Klarheit über mein Drüsengewebe bringen soll sind noch nicht übermittelt. Anstatt dessen kriege ich die ursprünglichen Mammografie-Bilder zu sehen.
„Schauen Sie, diesen Fleck möchten wir mit den anderen Aufnahmen noch einmal abklären“, kriege ich zu hören, während meine Augen auf das weisse Etwas gerichtet sind, das sich auch für meine Laien-Augen leicht erkennbar vom anderen Gewebe in meiner Brust abhebt.
PENG! Da ist sie wieder. Die Erinnerung an den Moment meiner Diagnose und ich fühle mich wieder in die Vergangenheit versetzt. Wieder eine Anomalie, die da nicht hingehört; die noch einer weiteren Abklärung bedarf. Das habe ich doch schon alles einmal vor zwei Jahren durchgemacht. Mit bekanntem negativen Ausgang. Mir fällt es schwer daran zu glauben, dass es heute anders sein soll, auch wenn sich meine Ärztin noch so optimistisch gibt. Sekunden werden zu Stunden und ich merke, dass mich meine Vergangenheit endgültig eingeholt hat.
Da die Bilder immer noch nicht geladen werden, machen wir mit dem Ultraschall weiter, der mir bestätigen soll, dass es sich bei der Verdickung lediglich um normales Gewebe handeln soll. Ich erzähle viel darüber, wie es mir in den letzten Monaten ergangen ist, während Gel und Ultraschallkopf über meine obere Körperhälfte gleiten. Darüber, dass die Patientin in mir noch zu gross ist und ich jeden Tag daran arbeite, dass sie wieder kleiner wird. Meine Ärztin fragt:
„Müssen Sie die Patientin wirklich hinter sich lassen? Hinter dieser Aussage steckt doch auch schon wieder so viel Druck.“ Ich komme ins Grübeln.
Nach einer Stunde entlässt sie mich mit einer Alles-in-Ordnung-Diagnose. Ultraschall und Scheiben-Mammografie haben ihre optimistische Einschätzung bestätigt. Nächste Kontrolle in einem halben Jahr. Eigentlich sollte ich mich doch darüber freuen, dass alles gut ausgegangen ist, aber irgendwie will die Anspannung nicht aus meinem Körper weichen. Tränen, die ich krampfhaft versuche zu unterdrücken, als ich wieder auf die Strasse trete.
Als ich nach Hause komme, erzähle ich kurz von meiner Kontrolle. Die Traurigkeit und Erschöpfung, die sich in meinem Körper breitmacht, kann ich kaum noch verbergen. Meine Mutter, die grad zu Besuch ist, versucht wie immer, tröstende Worte für mich zu finden, als sie mich in den Arm nimmt.
„Aber die Hauptsache ist doch, dass alles gut ausgegangen ist. Es ist doch alles in Ordnung“, sagt sie.
„WIE LANGE NOCH?“, fragt schreiend die Patientin in mir.
Bis zur nächsten Mammografie? Noch weitere 5 Jahre? Weitere 10 oder 50? Vielleicht entscheiden sich gerade jetzt einige Zellen in der besagten Gewebeschwulst, dass sie im Spiel um Gut und Böse auf die falsche Seite wechseln wollen.
Klar ist, dass die unterschiedliche Bewertung meiner Untersuchung von mir und meinem Umfeld im Davor und Danach zu finden ist. Während sich die meisten Leute, die ich kenne, in einem Leben vor solch einem einschneidenden Moment befinden, bin ich bereits in einem Leben danach angekommen. In meinem Fall handelt es sich nicht mehr um VORsorgeuntersuchungen, sondern NACHkontrollen. Diese beiden kleinen Wörter haben massgeblichen Einfluss darauf, wie dieser Routinetermine von unterschiedlicher Seite beurteilt wird. Während ich mir vor meiner Krankheit bei jedem Arztbesuch voller Zuversicht die Bestätigung geholt habe, dass Alles in Ordnung ist, versuche ich mir heute wieder ein Gefühl der Sicherheit aufzubauen, dass der Krebs nicht mehr wiederkommt.
Und genau das ist der Grund, warum die Patientin in mir wieder ein Stück weit kleiner werden muss. Ich möchte, dass sie wieder etwas Platz macht für ein Gefühl der Sicherheit. Für eine Gelassenheit, die es mir ermöglicht mit meinen Erfahrungen und Ängsten besser umzugehen. Auch wenn ich weiss, dass die Patientin nie wieder ganz verschwinden wird, die Unbeschwertheit nie wieder die gleiche sein wird.
Der Termin am Nachmittag hängt mir auch noch am Abend im ganzen Körper. Der kurze Schock schnürt mir die Kehle zu. Tränen, die ich nicht mehr aufhalten kann, führen dazu, dass ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf falle, bevor mich am Morgen der Radiowecker mit dem Lied „Dieser Weg“ von Xavier Naidoo weckt:
Dieser Weg wird kein leichter sein.
Dieser Weg wird steinig und schwer.
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein.
Doch dieses Leben bietet so viel mehr.
Wie viel Wahrheit doch manchmal in solch einem Text steckt. Als ich meinen müden Körper aus dem Bett schleppe, höre ich, dass die Münchener Freiheit mit neuem Front-Sänger grad im Morgenmagazin ihren Evergreen-Hit Ohne Dich zum besten gibt. Kindheitserinnerungen werden wach. War die Münchener Freiheit doch die erste „Boy-Band“, für die ich in Kinder-und Jugendtagen geschwärmt und mein Zimmer mit Bravo-Ausschnitten gepflastert habe.
Und ich werde wieder daran erinnert, dass es stimmt – das Leben bietet so viel mehr. Meinen Mann zum Bespiel, der mich im Morgenmantel prompt zu einem kleinen Tänzchen auffordert und erst wieder loslässt, als das letzte „Das was ich will, bist du“ verhallt ist. Es sind die Kleinigkeiten des Alltags, welche die Schönheit meines Lebens – Davor und Danach – ausmachen. Der von meiner Mutter gepflückte Herbstblätter-Strauss, der in roten und orangenen Farben unsere Wohnung in nebeligen Herbsttagen zum Leuchten bringt.
Und es ist die gleiche Patientin in mir, die dafür sorgt, dass ich diese kleinen besonderen Augenblicke des Alltags wieder viel bewusster wahrnehme. Die mir laut zuruft: Geniesse jeden Augenblick. Und so werde ich weitermachen in meinem Leben danach. Bis zur nächsten Kontrolle.