Mit dem Ende meiner Therapie hatte ich wieder begonnen, meinen Körper sportlich beim Joggen herauszufordern. Als Kind und Jugendliche habe ich immer viel Sport gemacht, allerdings kann ich nicht behaupten, dass kontinuierliches Laufen zu meinen liebsten Sportarten gezählt hätte. Beim 100-Meter Sprint gehörte ich nie zu den Schnellsten und beim Dauerlauf um den Sportplatz bin ich nach kürzester Zeit an meine Ausdauergrenze gestossen.
Doch nachdem die letzten Chemiecocktails durch meinen Körper geflossen waren, verspürte ich das tiefe Bedürfnis, meinen Körper und die müden Muskeln wieder auf Vordermann zu bringen. Zugeben, schon in den Jahren vor meiner Krankheit hatte ich das Thema Sport sträflich vernachlässigt, hatte die positiven Gefühle, die körperliche Anstrengung verursachen können, verloren und den Gang ins Fitnessstudio nur noch als „Muss“ empfunden. Die Grenzen meiner persönlichen Erschöpfung waren damals bereits allein durch meine Alltagsverpflichtungen erreicht. Die Arbeit, oder vielmehr das Pensum an Überstunden, spielte da natürlich auch eine entscheidende Rolle.
Mit dem Zeitpunkt meiner K-Diagnose wurde mir recht schonungslos vor Augen geführt, wie sehr ich meine körperliche Fitness und meine Gesundheit vernachlässigt hatte. An irgendeiner Stelle war irgendwie mein Immunsystem ausgestiegen, hatte kapituliert vor den bösartigen Zellverfehlungen, die sich langsam in meinem Körper ausbreiteten. Ein Wink mit dem Zaunpfahl, oder vielmehr mit dem ganzen Zaun, dass mein Leben die Balance verloren hatte. Nie hätte ich damit gerechnet, dass mein Körper mir in so jungen Jahren Grenzen setzt; einfach beschliesst, dass mein Leben, mein Alltag so nicht mehr weitergeht. Mit grossem Respekt sah ich dann meiner Therapie entgegen, die ohne Zweifel für meinen Körper ebenfalls eine grosse Belastung sein würde. Und ich hatte beschlossen, ihn bestmöglich beim Kampf gegen „K“ zu unterstützen.
Die bittere Wahrheit ist, dass wir manchmal erst etwas verlieren müssen, bevor wir begreifen, wie viel uns daran liegt. So sehr ich in meinen jungen Jahren meine Gesundheit immer als selbstverständlich hingenommen hatte, war mir ab diesem Zeitpunkt klar, dass ich alles tun wollte, um eben diese zu schützen. Mit etwas Sport, so war meine Hoffnung, könnte ich die Nebenwirkungen der Medikamente vielleicht eingrenzen und mich selbst etwas in Form halten. Das war auf jeden Fall der einstimmige Tenor meiner Ärzte und Pflegefachfrauen und so hielt ich mich daran. Was sollte ich auch anderes tun. War doch der Sport gefühlt mein einziger Weg, um aktiv etwas gegen die Krankheit tun zu können und so das Gefühl des hoffnungslos aufgeliefert sein etwas unterbinden zu können.
Von nun an gehörten Einheiten auf dem Crosstrainer und Yogastunden zu den Highlights meiner Chemowochen und –monate. Und dann, als die Tage wieder wärmer und die Haarstoppeln wieder länger wurden, lief ich los. Ich lief, ausgestattet mit einem modischen Kopftuch und einer Pulsuhr, um mich immer innerhalb meiner körperlichen Belastungsgrenzen bewegen und steigern zu können. Ich lief, und lief, zuerst nur einige Meter am Stück, bis ich am Ende des Sommers meine bekannte Joggingstrecke wieder ohne Unterbruch bewältigen konnte. Es war ein überragendes Gefühl, meinen Körper wieder aus dem gezwungenen Schlafmodus der physischen Erschöpfung zu holen. Und auf einmal – ganz nebenbei und als positiver Nebeneffekt – war es wieder da, dieses gute Gefühl von körperlicher Anstrengung.
Das Laufen ist – bis heute – mein Weg, die Angst vor meiner Krankheit in Schach zu halten. Ich laufe, um hoffentlich stets schneller zu sein als „K“, der mich mit einer zumindest statistisch erhöhten Wahrscheinlichkeit vielleicht wieder einholen möchte. So selten ich mir vor dem Tag X Gedanken über die Grenzen meiner Gesundheit gemacht habe, umso stärker sind nun alle meine Wahrnehmungssensoren auf jede Zelle meines Körpers gerichtet. Wenn ich laufe, habe ich das Gefühl, die offensichtliche Willkür, mit der mich „K“ heimgesucht hat, ein Stück weit kontrollieren zu können. Wenn mein Herz 160 Mal pro Minute Blut durch die Adern pumpt, denke ich, dass meine Zellen bei ihrer Achterbahnfahrt durch meinen Körper keine Zeit haben, um Schabernack zu treiben.
Die Frage nach dem „Warum?“ werde ich nie beantworten können. Und so bleibt mit nichts anderes übrig, als tiefe Dankbarkeit dafür zu empfinden, dass ich wieder gesund bin. Dafür, dass ich wieder in der Lage bin, Sport zu treiben und darauf zu vertrauen, dass meine Milchmädchenrechnung irgendwie aufgeht.