Phantom-Metastasen

Sie sind wieder da. Ich spüre sie im ganzen Körper. Sie sind kaum auszuhalten und machen mich wahnsinnig. Die Stiche in meiner Brust. Das Ziehen. Die Verhärtungen. Ich schaffe es kaum, meine Gedanken nicht in die Dunkelheit abdriften zu lassen. Ein Blick in meinen Kalender zeigt mir: sie steht wieder an – die nächste Jahreskontrolle mit Mammografie.

Von Tag zu Tag wird sie präsenter. Die Angst. Sie lässt mich immer wieder meine Brust abtasten. Die Knoten und Unregelmässigkeiten in meinem Drüsengewebe. Eigentlich weiss ich schon lange, dass es keinen Sinn mehr hat, meine Brust mit der Hand zu kontrollieren. Ich würde ohnehin keinen Unterschied mehr erkennen zwischen neuen Tumoren und Narbengewebe. Selbst meinen Ärzten gelingt diese Unterscheidung mit den Händen nicht mehr.

Und doch kann ich es nicht lassen. Ich frage mich, ob der Knoten, der schmerzhaft bei Druck in meine Achsel zieht, auch schon bei der letzten Kontrolle da war. Ich weiss es nicht mehr. Aber im Zweifel gegen den Angeklagten. Bestimmt ist es eine neue Wucherung. Ein neuer Krebs. Eine neue Metastase.

Ich merke, wie sie sich ausbreiten. Nicht nur in der Brust sondern im ganzen Körper. Warum sticht es mir seit einigen Tagen links von der Wirbelsäule? Und irgendwie habe ich immer wieder so einen Schmerz oberhalb des rechten Augapfels. Wenn ich mich innerlich betrachte, kann ich sie sehen. Die Phatom-Metastasen, die meinen Körper bevölkern und jede Hoffnung auf ein langes Leben zerstören.

Schon oft hatte ich dieses Gefühl, doch noch nie war es so schlimm, wie dieses Mal. In der Nacht vor der Kontrolle wache ich auf mit einem Gefühl von Panik. Ich kann mich kaum beruhigen, sodass ich meinen Mann neben mir ebenfalls aus dem Schlaf reisse.

„Ich habe solche Angst davor, dass ich unseren Kleinen nicht mehr aufwachsen sehe. Nicht dabei sein kann bei seiner Einschulung. Nicht mehr lebe, wenn er seine erste Freundin nach Hause bringt. Nicht mehr stolz sein kann, wenn er seinen Schulabschluss macht. Nicht auf seiner Hochzeit tanzen kann, wenn es denn eine gibt.“ Es sprudelt nur so aus mir heraus. All das, was ich mich im Alltag kaum wage zu sagen oder zu denken.

„Es wird schon alles gut sein“, sagt mein Mann. Doch diese gutgemeinte Standardparole wirkt bei mir dieses Mal nicht. Ich möchte, dass er mir sagt, dass es weitergeht. Auch bei einer neuen Krebsdiagnose. Ich möchte, dass er mir sagt, wie es weitergeht. Auch wenn sie noch gar nicht Realität ist: die neue Krebsdiagnose.

„Du musst deine Angst ja gar nicht ganz verdrängen“, höre ich ihn sagen. „Aber genauso, wie die Möglichkeit besteht, dass der Krebs wieder da ist, musst du auch die Möglichkeit in Gedanken zulassen, dass es für deine Schmerzen eine ganz andere Ursache gibt.“

Wie recht er hat. Und doch frage ich mich, warum ich die Angst dieses Mal so schwer in den Griff bekomme.

Es ist wohl die Angst vor der Endlichkeit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die mich manchmal in den Wahnsinn treibt. Ich befürchte, dass ich bei einer neuen Krebsdiagnose aus einer zu grossen Höhe abstürzen würde. Der Fall wäre zu tief, der Aufprall zu hart. Ich habe Angst, dass ich bei einem erneuten „Ab“ auf der Lebens-Achterbahn aus der Spur geschleudert werde. Als zu kostbar empfinde ich mein Leben. Besonders nach meiner ersten Diagnose. Zu schön ist die Erfahrung, Mutter sein zu dürfen. Zu kurz sind die Momente, in denen ich meinem Sohn die Welt zeigen darf und sehe, wie er Tag für Tag dazulernt. Zu viele Dinge gibt es in meinem Leben, die ich noch machen möchte: die Kirschblüte in Japan erleben; ein Buch schreiben; mit meinem Sohn eine Reise im Camper machen; mit meinem Mann Tango in Buenos Aires tanzen. 35 Jahre sind zu schnell vergangen. Und ich habe doch erst gestern begonnen mit meinem Leben.

Ich bin immer noch auf der Suche und habe sie noch nicht gefunden: die Antwort auf die Frage, wie ich mit dieser Angst umgehe. Vielleicht wird es ein Leben lang dauern. Ich hoffe nicht.

Die Mammografie war, wie immer, schmerzhaft. Das Warten auf das Ergebnis hat eine gefühlte Ewigkeit gedauert. Ich hab eine neue Ärztin. Sie ist wunderbar, aber eben nicht meine alte. Nicht die, die mit mir meine ganzen Sorgen und Ängste in den letzten Jahren durchgestanden hat. Sie wollte mich erst ein bisschen kennenlernen und hat mich zappeln lassen vor den Schwarzweiss-Bildern meiner Brüste. Wieder eine gefühlte Ewigkeit.

Es ist alles in Ordnung. Dieses Mal. Nur sich ausdehnende Verkalkungen zeigen sich im Gewebe. Die Angst rutscht in den Keller und macht Platz für ein warmes Gefühl der Erleichterung. Bis zur nächsten Kontrolle.

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