„Lebe jeden Tag so, als wäre es dein letzter.“
Seit meiner Brustkrebsdiagnose habe ich mein Leben recht konsequent nach diesem Motto ausgerichtet. Und ich muss sagen: es lebt sich recht gut damit. Es ist ein Motto, das wahrscheinlich jeder kennt. Vielleicht nimmt es sich der eine oder andere öfter einmal vor, es umzusetzen, doch häufig verschlingt der Alltagsstress und die fehlende Zeit den entsprechenden Umsetzungswillen. Was du heute kannst besorgen, verschiebe getrost auf morgen.
Die Konfrontation mit meinen potentiell eigenen letzten Tagen, Wochen, oder Monaten, die mir mit der K-Diagnose schlagartig ins Bewusstsein getreten ist, hat es mir seitdem sehr erleichtert, mich darauf zu konzentrieren, was mir wichtig ist. Unwichtiges wegzulassen. Das Leben auszumisten. Sich nicht mehr übermässig zu ärgern über kleine Banalitäten des Alltags. Den Fokus auf all die positiven und schönen Dinge zu lenken, die ich noch erreichen will. Die mir wichtig sind. Die mich erfreuen. Es ist wohl eine gewisse Kompromisslosigkeit, die mit dem Sieg über den Krebs in mein Leben gezogen ist. Niemand kann wissen, wie viele Tage Leben ihm noch auf dieser Erde bleiben. Und auch wenn ich mir fest vorgenommen habe, das Alter meiner Oma (95) zu erreichen, so lebe ich doch mittlerweile im Bewusstsein, dass das „Hier und Jetzt“ zählt und ich meine Zeit auf Erden – solange sie eben dauert – bestmöglich nutzen möchte.
„Carpe Diem“ – Nutze den Tag. Und mach es dir bewusst. Genau das tue ich. Und es fühlt sich gut an. Oommm und Amen. Die Erfahrung Krebs hat einen grossen Anteil an dieser bewussten Lebenseinstellung. Es ist für mich eine der positiven Seiten, die diese Grenzerfahrung mit sich bringt. Das dachte ich zumindest bis jetzt.
Doch dann bin vor kurzem auf ein Zitat von Paulo Coelho gestossen:
Niemand kann die Zeit zurückdrehen, aber alle können voranschreiten. Und morgen, wenn die Sonne aufgeht, braucht sich jeder nur immer wieder zu sagen: „Ich werde diesen Tag so leben, als wäre er der erste meines Lebens.“
Er nannte es HOFFNUNG…
Und auf einmal wird mir klar, was in meiner Carpe-Diem-Gleichung nicht ganz aufgeht. Es ist die Hoffnung, die mir fehlt. Der Optimismus, dass alles, was gut geworden ist, auch so bleibt. Die Unbeschwertheit und das Vertrauen, dass mein Körper zukünftig dieser einschneidenden Krankheit standhält. Jeder Tag, der von mir genutzt wird, jeder Traum, den ich mir erfülle, wird begleitet von der Befürchtung, dass der Krebs irgendwann wieder meinen Alltag bestimmen wird. Zu einschneidend war die Erfahrung, dass die Krankheit all meine Lebenspläne über den Haufen geworfen hat. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich das Leben nicht planen kann, daher realisiere ich die Dinge, die mir wichtig sind heute und jetzt. Und es ist ein wunderbares und befreiendes Gefühl, doch gleichzeitig kann ich den Druck nicht leugnen, der mit dem Gedanken einer begrenzten Zeit entsteht. So viele Dinge habe ich doch noch vor.
Dabei könnte ich die Sache doch auch von der anderen Seite betrachten. Denn ich hatte wirklich sehr viel Glück. Ich habe meine Gesundheit wieder. Und das war nicht selbstverständlich. Und auch wenn mir alle Gesundheitsstatistiken eine höhere Rückfallwahrscheinlichkeit bescheinigen, so ist die Chance, dass ich von nun an krebsfrei bleibe mindestens genauso gross wie die einer erneuten Begegnung. Mir wurde ein zweites gesundes Leben geschenkt und dieses Gefühl der Dankbarkeit ist unbeschreiblich. Vielleicht sollte ich es so bewerten, als ob für mein Leben die „Reset-Taste“ gedrückt wurde und ich von nun an alle Möglichkeiten habe, mein neues Leben nach meinen eigenen Vorstellungen zu gestalten. Ohne Limit, ohne zeitliche Begrenzung. Im festen Glauben daran, dass die Begegnung einmalig war und der Krebs nie wieder kommt. Ich glaube, dass es dieser Gedanke ist, den Paulo Coelho mit seinem Satz gemeint hat. Jeden Tag zu leben, als wäre er der erste deines Lebens. Die Vergangenheit einfach sein zu lassen und von vorn zu beginnen. Alles auf Anfang…
Zugegeben – es wird wahrscheinlich ein Leben lang dauern, diese Hoffnung wiederzuerlangen. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt und ich bin mir sicher, dass es ein Weg ist, der sich lohnen wird.
Für meine liebe C.