Und zum Abschied sag ich leise…

Liebe Freundin

Fast auf den Tag genau 30 Jahre ist es nun her, seitdem du dich von dieser Welt verabschiedet hast. Der Tag war genauso sonnig, wie der Heutige. Die Luft war angenehm warm, die Bäume und Sträucher hatten bereits ausgeschlagen. Keine Wolke konnte den azurblauen Himmel trüben. Wie viele andere Tage meiner Kindheit, war es zuerst ein guter Tag für mich. Doch ein Blick über den Gartenzaun sollte auf einmal alles ändern. Es war der Tag, an dem der Krebs dir das Leben nahm und so auch in mein Leben trat.

Wir kannten uns seit Babytagen, wohnten Haus an Haus in einem 900-Seelen-Bauerndorf. Oft trafen wir uns auf der Strasse zum Spielen. An lauen Sommerabenden sogar manchmal im Pyjama, wenn wir doch noch eine letzte Runde Hinkelkästchen hüpfen wollten. Unsere Freundschaft war für mich immer selbstverständlich. Da du ein Jahr älter warst, als ich, warst du immer die Führende von uns beiden. Du hast mich geleitet, ich bin dir gefolgt. Egal, ob wir im eiskalten Bach Enten und Kaulquappen gesucht, oder bei der Gastwirtschaft nebenan für 10 Pfennige Brausebonbons gekauft haben: du hast mir stets gezeigt, wo es lang geht im Leben.

Irgendwann hattest du keine Haare mehr. Dafür eine rosa Kappe, die irgendwann genauso selbstverständlich zu deinem Antlitz gehört hat, wie die Hufeisennarbe auf deinem Kopf. Ich erinnere mich noch genau an den Nachmittag, an dem du sie uns Nachbarskindern stolz im Wohnzimmer deiner Eltern präsentiert hast. Der Krebs – er hatte zu diesem Zeitpunkt für mich noch kein Schreckensgesicht. So bewundernswert stark und selbstverständlich bist du mit deinem Schicksal umgegangen. Ich frage mich immer wieder: War dir eigentlich bewusst, dass dein Leben auf Erden nicht mehr lange dauern würde?

Falls es so war, hast du es auf jeden Fall nicht gezeigt. Und auch mir war nicht klar, dass ein Telefonat mit deiner Mutter einige Zeit später der letzte Kontakt zu dir sein sollte.

„Sie kann heute nicht zum Spielen rauskommen, weil es ihr nicht so gut geht. Sie meldet sich bei dir, wenn es ihr wieder besser geht.“

Es ging dir nicht mehr besser und auf einmal war er da – der Samstagnachmittag, an dem meine Mutter und meine Schwester mir mit entsetztem Gesichtsausdruck entgegenschrien, dass ich wegbleiben solle vom Gartenzaun. Ich habe mich nicht daran gehalten. Das Bild vom schwarzen Leichenwagen vor eurer Haustür hat sich tief in meine Seele gebrannt. Genauso, wie der plötzliche Verlust, den der Krebs zu damaliger Zeit häufig mit sich brachte. Irgendwann warst du, meine Freundin, einfach verschwunden. Zuerst hinter den verschlossenen Türen deiner Eltern. Danach hinter den Autotüren des Leichenwagens, dessen Fenster mit weissem Stoff und dem Motiv einer aufgehenden Sonne bedeckt waren. Du hast mir oft gefehlt in der folgenden Zeit, doch das Schlimmste von allem war, dass ich mich nicht verabschieden konnte.

Nie hat irgendjemand je wieder mit mir über dich gesprochen, mich gefragt, ob ich traurig bin, oder ob ich dich vermisse. Sie wollten mich schützen, die Erwachsenen, indem sie einfach wieder zur Tagesordnung übergegangen sind. Also habe ich das auch irgendwie getan. Deinen Tod als etwas hingenommen, das einfach so passiert im Leben.

Bis zu einer meiner letzten Therapiesitzungen vor ein paar Wochen: meine Psychologin hatte vorgeschlagen, dass ich doch einmal ein Portrait von dir malen sollte. Ich überlegte kurz und malte dich mit rosa Kappe und Narbe, denn ich kann mich ehrlich gesagt kaum mehr an deine Haarfarbe erinnern. So natürlich und normal war für mich dein „Krebsgesicht“. Als Abschied, und um das Thema abzuschliessen, sollte ich dann später deine Narbe entfernen und dir Haare malen. Beim Anblick des fertigen Portraits erschrak ich.

Freundin1„Was denken Sie, wenn Sie sich nun ihre Freundin so anschauen“, fragte meine Psychologin.

„Das bin ich“, war das Einzige, was ich dazu sagen konnte.

Es war ein spezieller Moment, in dem ich erkannte, wie stark dein Schicksal mein eigenes Leben geprägt hatte. 30 Jahre lang habe ich im Bewusstsein gelebt, dass deine Freundschaft nur noch eine blasse Erinnerung für mich war; dein Tod schon längst zu den Akten gelegt wurde. 30 Jahre hat es gedauert, bis mein Körper, mein Geist und meine Seele eine Trauer über den Verlust deiner Freundschaft zulassen. 30 Jahre hat es gedauert, bis ich erkannt habe, dass dein Umgang mit der Krebserkrankung den Meinigen massgeblich beeinflusst hat. Kein Gedanke war für mich während meiner Chemotherapie schlimmer, als nicht mehr Teil des aktiven Lebens sein zu können. Mit aller Offenheit habe ich mein soziales Umfeld an meiner Erkrankung teilhaben lassen. Habe mich und den Krebs nicht weggesperrt hinter verschlossenen Türen. Habe ich mich vielleicht auch wegen dir für eine rosa Kappe entschieden, als mir die Haare ausfielen? Heute weiss ich, dass du einen grossen Anteil an meinem offenen Umgang mit dem Brustkrebs hattest und immer noch hast.

Und so schliesst sich für mich ein Kreis und beendet ein Kapitel der lange andauernden Aufarbeitung meiner Krebserfahrung. Lange hat es gedauert. Aber es hat sich gelohnt. Und so bleibt mir nicht mehr viel zu sagen, ausser:

Und zum Abschied sag ich leise…DANKE!

4 Gedanken zu “Und zum Abschied sag ich leise…

  1. Helen schreibt:

    Liebe Red Wellie, diesen Blogpost habe ich schon seit Monaten immer mal gelesen, weil er so wunderbar und berührend geschrieben ist. Überhaupt mag ich Dein Blog sehr. Ich hatte 2014 auch BK (mit 34) und kann mich in vielen Deiner Gedanken wiederfinden.
    Sag mal, hast Du nach BK Therapie Deinen Sohn bekommen? Hast Du Tamoxifen genommen und pausiert/abgesetzt für eine Schwangerschaft? Falls ja würde mich ggfs ein Austausch interessieren.

    • Red & Welly schreibt:

      Liebe Helen
      Vielen Dank für deinen Kommentar und deine lieben Worte. Was deine Frage betrifft: Ja, mein Sohn ist nach dem BK zur Welt gekommen. Ich hatte meine Diagnose mit 31 und war dort eigentlich mitten in der Planung, die ich dann erst einmal abhaken musste. Da ich einen Triple Negativen Tumor hatte, also er nicht hormonempfindlich war, brauchte ich auch nach der Chemotherapie und Bestrahlung auch keine weiteren Medikamente mehr nehmen. In der Behandlung des Tumors blieb mir also nur die Chemotherapie als Option. Aber für die Zeit nach der Behandlung war es natürlich ein Vorteil, da ich nicht überlegen musste, ob ich eine Hormontherapie absetzen möchte und kann, sobald ich Kinder plane.

      Ich kann mir gut vorstellen, dass es bei dir vielleicht stark um Fragen geht, ob du dem Körper wieder ohne Hormontherapie vertrauen kannst. Bei dem Thema kann ich nicht aus Erfahrung sprechen und kann mir vorstellen, dass die Frage für jede Frau in dieser Situation sehr schwierig ist. Ich kann noch nicht mal sagen, ob ich mich in diesem Fall für eine Kinderplanung entschieden hätte. Zu meiner Situation nur so viel: ich habe mich bei der Diagnose klar gegen eine Eizellentnahme entschieden, da ich auch schlichtweg das Gefühl hatte, dass ich die Kinderfrage nicht mehr kontrollieren kann und möchte. Ich habe da auf mein inneres Bauchgefühl gehört, dass ich mich darauf einlassen möchte, was das Leben mit mir plant. Mit oder ohne Kinder. Und dann kam die Zeit, da hatte ich einfach ein Schweineglück mit der Geburt meines Kindes.
      Klingt vielleicht abgedroschen, aber ich habe ich schlichtweg auf mein Bauchgefühl verlassen und fahre seitdem sehr gut damit. Ich wünsche dir alles Liebe und Gute bei dieser Frage und freue mich, wenn du wieder einmal vorbeischaust.

  2. Helen schreibt:

    Vielen Dank für Deine liebe Antwort, das hat mich sehr gefreut. Ja, DAS ist wirklich ein (vielleicht der einzige…) Vorteil mit TN, dass man nichts bewußt weglassen muß, sondern es drauf „ankommen“ lassen kann und die Therapie dann tatsächlich beendet ist. Aber genau: ich empfinde die Tabletten ja als Schutz und das sollen sie ja bei hormonabhängigem BK auch sein, daher ist das mit dem Absetzen keine leicht zu treffende Entscheidung. Ich werde noch ein bißchen drüber schlafen müssen, denn ich möchte – falls doch ein Rückfall käme – mir keine Schuld geben und nicht denken müssen, ich hätte es verursacht. Aber immerhin hat mich noch kein Arzt für verrückt erklärt, sie sind alle der Meinung, dass man das wagen kann und darf.

    Freue mich sehr, dass bei Dir Dein kleines Wunder drin war – ich finde auch den von Dir verlinkten Artikel zu dem dritten Kind nach BK superschön.

    Alles Gute Dir, ich lese ganz bestimmt weiter hier!

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