„Hast du Angst vor dem Tod?“
„Nein. Ich hab Angst vor dem Leben!“
Das ist die bittere Erkenntnis, die mich überkommt. Hier. In der Jugendherberge. Mitten in der Nacht, die schlaflos ist, weil mein Sohn neben mir im Bett seinen eigenen Stepptanz-Auftritt im Schlaf probt. Am Nachmittag hatte ich fast fluchtartig unsere Wohnung verlassen. Nein, eigentlich wurde ich von meinem Mann fast dazu gedrängt, mich auf den Weg zu machen. Mit Kind und Auto zu meiner Mutter, die 800 km von uns entfernt wohnt. Die mich angefleht hatte, lieber den Zug zu nehmen. Was da nicht alles passieren könne, auf 800 km Autobahn und bei angesagtem Sauwetter. Und dann noch mit dem kleinen Mann im Gepäck.
Ich habe es doch – oder vielleicht gerade deswegen – gemacht und fühle mich befreit. Mit jedem Kilometer, den ich von meinem Alltag weg bin, ein bisschen mehr. Geh ich ein zu hohes Risiko ein? Schliesslich ist für morgen noch Eisregen angesagt. Bin ich vielleicht sogar verantwortungslos als Mutter?
Und nun: Zwischenstopp Jugendherberge, die mein Mann am Mittag kurzerhand für mich und unseren Sohn gebucht hatte. Ein Familienzimmer mit eigenem Bad. Fast niemand ist hier so kurz nach der Jahreswende. Fünfzehn Personen in einer Herberge mit 250 Betten. In der Dunkelheit der Januarnacht frage ich mich, woher es wohl kommt. Dieses lähmende Gefühl der Angst, das ich seit einiger Zeit verspüre.
Etwas wehmütig erinnere ich mich an das befreiende Gefühl, das ich nach dem erfolgreichen Abschluss meiner Chemotherapie hatte. Den Brustkrebs überstanden. Besiegt. In die Flucht geschlagen. Dem Tod von der Schippe gesprungen. Dieses Mal. Was sollte mich da im Leben noch schocken? Es war ein tolles Gefühl, alles zu relativieren. Das Gefühl, dass alle anderen Probleme im Leben nur Kleinigkeiten sind im Vergleich zu dem, was ich überstanden hatte. Ich konnte sie mir eine Weile bewahren. Diese Leichtigkeit des Seins. Sich mit dem eigenen Tod zu konfrontieren, hat mir in dieser Zeit einen sehr klaren Blick für das Wesentliche verschafft. Viele Momente habe ich sehr bewusst wahrgenommen. Die schönen Dinge in meinem Leben sehr geschätzt und genossen. Dass ich mein Leben so intensiv geniessen konnte, war sicherlich eine Folge dessen, dass mir sehr bewusst war, dass all das Positive und Schöne auch jeden Moment wieder vorbei sein könnte.
Dann habe ich mich auf die Suche nach einem neuen Alltag gemacht. Ich hab ihn gefunden. Und mit ihm die alltäglichen Herausforderungen, Problemchen und den Hang zum Alltagstrott. Vieles ist beruhigend an dieser Struktur und scheinbaren Sicherheit. Doch ich merke seit einiger Zeit, dass diese Routine mir immer wieder den Atem raubt. Mich einengt und mir Angst macht.
Ich habe keine Angst vor dem Tod sondern vor dem Leben. Vor all dem, was schief gehen könnte und noch schief gehen wird. All die schlimmen Nachrichten aus aller Welt – sie machen mir Angst. Dabei war die Welt früher bestimmt nicht besser. Ich habe Angst davor, als Mutter für meinen Sohn eine falsche, vielleicht folgenschwere Entscheidung zu treffen. Ich hab doch ehrlich gesagt keine Ahnung, wie man als Mutter sein soll. Ich habe Angst davor, dass der Krebs wiederkehrt und mich vielleicht daran hindert, meinen Sohn aufwachsen zu sehen. Wie er in die Schule kommt, seine erste Freundin hat (oder seinen ersten Freund ;-)) und für welchen Beruf er sich entscheidet. Und ich habe Angst, dass der Krebs mich daran hindert, all die Dinge zu erleben, die ich noch erleben möchte auf dieser Welt. Eine Reise nach Feuerland oder zur Kirschblüte nach Japan.
Doch am meisten Angst habe ich davor, dass ich mich genau von dieser Angst lähmen lasse. Aufhöre, spontan zu sein. Keine Risiken mehr eingehe. Mich in eine trügerische sichere Ecke verkrieche.
Denn eigentlich bin ich kein ängstlicher Mensch. Und Angst ist ein schlechter Berater im Leben. Alles kann passieren und nichts davon muss eintreten. Aber wenn ich mich von der Angst leiten lasse, kann ich mich auch grad selbst beerdigen.
Aus diesem Grund habe ich es gewagt: die 800 km mit Auto und Kind in 24 Stunden. Ich bin angekommen. Und das noch nicht mal schlecht. Mein Sohn hat viel geschlafen und zwischendurch immer mal wieder seine Hände entdeckt. Kein einziges Mal hat er geschrien, eher das Gegenteil war der Fall. Er hat nette Leute in der Jugendherberge und auf den Autohöfen kennengelernt. Und bei Mama gelernt, wie man sich am Abend vor dem Schlafen gehen noch eine Pizza bestellt. Er hat gelernt, wie das Leben einfach Schritt für Schritt weitergeht. Kilometer für Kilometer auf der Autobahn. Mal durch dicken Nebel, mal durch Schnee, mal durch Regen und dann wieder durch schönsten Sonnenschein.
Und das ist es, was ich ihm mitgeben möchte. Das ganze Leben eben.
Alles richtig gemacht würde ich sagen, das Leben will gelebt werden, nicht vom Sofa aus betrachtet 😊. Und das tut so gut. Meine Kinder waren zur Zeit meiner Diagnosestellung 9 &13 Jahre alt und mussten 2 Jahre Therapie und Ängste mit durchstehen. Wie genieße ich die Zeit mit ihnen, habe später Städtetouren nach Berlin mit ihnen gemacht, einfach gemeinsame Zeit genießen! Das wünsche ich auch!
Vielen Dank. Es fühlt sich auch richtig an :-) Liebe Grüsse