„Wieviel Zeit bleibt mir wohl noch, um meine Lebensträume zu verwirklichen?“
Ich sitze in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit, als mir dieser Gedanke kommt. Morgens um sieben Uhr dreißig. Es ist ein Gedanke, den ich schon lange kenne. Ein alter Kumpel, der vor fast acht Jahren in mein Leben getreten ist. In einer Zeit, als mein Leben mir grausam endlich erschien. In einer Zeit, in der Chemotherapien, geschminkte Augenbrauen, Tumorklassifikationen und genetische Beratungen meinen Alltag beherrschten.
Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken in dieser Zeit. In einer Zeit, in der ich die Möglichkeit kaum laut aussprechen konnte, dass mein Leben vielleicht dramatisch kürzer ausfallen würde, als ich mir das je vorgestellt hatte. Und es mag vielleicht klingen, wie in einem kitschigen Hollywood-Film: aber auch ich habe mir meine Liste gemacht. Eine Liste mit all den Dingen, die ich noch tun und erleben wollte; mit all den Orten, die ich noch bereisen wollte, bevor ich mich von dieser Welt verabschiede.
Beeile dich damit, denn wer weiß, wie viel Zeit dir dafür noch bleibt?, dachte ich mir damals.
Acht Jahre sind eine lange Zeit. Länger als du damals zu hoffen gewagt hast!, geht es mir heute durch den Kopf.
Es ist sieben Uhr dreiunddreißig, als die aufgehende Sonne in mein Gesicht scheint und mich auf meinen Gedanken reist. Der Thermobecher mit Tee, den ich noch nicht einmal angerührt habe, spiegelt sich orange in der dreckig zerkratzten Fensterscheibe der S-Bahn und ich kann mich nicht so recht entscheiden, ob ich noch den Podcast von gestern zu Ende hören, kurz bei Instagram vorbeischauen oder eine der PR-Fachzeitschriften lesen soll, die ich schon seit Ewigkeiten in meinem Rucksack mit mir herumtrage.
Drei Freundinnen warten außerdem noch auf Antworten per Whatsapp und die Leseprobe von Jojo Moyes neuem Buch ist auch immer noch unangetastet. Ich schaue mich um im Abteil; blicke die mitreisenden Pendler an, die alle ausnahmslos auf ihr Smartphone starren und entscheide mich daraufhin, einfach nur den Sonnenaufgang zu beobachten.
Verdammte Axt, du hast vergessen, Mandy und Ralph zur Geburt ihres zweiten Kindes zu gratulieren, jagt mir mein schlechtes Gewissen neue Gedanken in den Kopf. Das Foto plus Whatsapp Nachricht kam schon vor drei Tagen.
Vergiss nicht, eine Glückwunschkarte zu kaufen. Und wer hat eigentlich diesen Monat noch Geburtstag? Anja hat sich so gar nicht zurück gemeldet auf unsere Spiel-Einladung mit den Kindern. Und wollte Franka nicht noch zurückrufen gestern Abend? Die Einladung für den Förderverein muss ich heute Abend unbedingt noch schreiben. Und warum schafft es Daniel eigentlich nicht, sich in nächster Zeit mit mir mal abends auf ein Glas Wein zu treffen? Ach, und mit Claudia wollte ich mich doch noch im Malcafé treffen. Geht es vielleicht morgen Abend? Ach, eher nicht, ich muss unbedingt noch für meine Weiterbildung lernen. Den Stoff habe ich schon wieder ganz verdrängt.
Ich blättere durch meinen Kalender und fragen mich, wann es eigentlich wieder in mein Leben getreten ist? Dieses Leben, in dem ich das Gefühl habe, keine Zeit für nichts zu haben? Hatte ich das mir nicht ganz anders vorgenommen? Damals? Nach meiner Brustkrebs-Erkrankung? Leise Traurigkeit kommt in mir auf, als ich darüber nachdenke, wie viel Zeit ich für meine Freunde und meine Liebsten während meiner Erkrankung hatten und sie für mich. Muss der Weg denn wirklich immer erst auf die eigene Endlichkeit zugehen, bis man realisiert, was einem wirklich wichtig ist im gelebten Leben?
Als ich am Hauptbahnhof aussteige und noch kurz einen Abstecher in den Zeitschriftenladen mache, springt es mir entgegen: das Notizbuch, das mit seinem Spruch auf der Frontseite zum Kaufen anregen soll: „Mehr Ideen als Zeit“. Ich kaufe es nicht, denn alles sträubt sich in mir gegen diesen Gedanken. Ich will mehr Zeit haben als Ideen, denke ich mir und gehe aus dem Laden, ohne die neue Zeitschrift von Laura Seiler zu kaufen, für die ich eigentlich gekommen war.
Am Abend sitze ich dann resigniert in unserem Wohnzimmer und spreche mit meinem Mann über den Tag. Hast du DIESE E-Mail heute geschrieben? Hat sich DER schon gemeldet? Bis wann müssen wir den Kita-Antrag einreichen? Warum hat der Maler erst in acht Wochen Zeit?
Ich habe zu viel um die Ohren und für nichts mehr richtig Zeit, ist meine traurige Erkenntnis des Tages. Und es ist so viel MÜSSEN in meinem Alltag, dass kaum noch Platz bleibt für das WOLLEN! Und dabei will ich doch eigentlich nur mein Buch schreiben. Denn das steht eigentlich ganz oben auf meiner Liste.
Ich glaube, man hat immer viel zu tun im Leben. Es ist nur eine Frage, welche Prioritäten man in bestimmten Phasen setzt, sagt mein Mann, der sich von meinem Gejammere kaum beeindrucken lässt :-). Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir bewusst, dass ich vielleicht wirklich an der einen oder anderen Stelle einmal öfter hätte ‚Nein‘ sagen können. Dass die eine oder andere Verpflichtung gar keine war, sondern nur ein Ausdruck meiner fehlenden Abgrenzung.
Ich habe beschlossen, beim National Novel Writing Month – NaNoWriMo mitzumachen, um mein Buch mal wieder voranzubringen, sag ich meinem Mann einige Tage später.
Setz dich doch nicht so unter Druck, antwortet er darauf.
Das ist kein Druck, entgegne ich. Ich setze einfach die Prioriäten neu!
„Wieviel Zeit bleibt mir wohl noch, um meine Lebensträume zu verwirklichen?“
Egal, ich fang einfach heute wieder damit an!